„Verzieh dich!“ Die Handgeste der Techno-DJane Stella Bossi sprach Bände. Gerichtet war sie an den alteingesessenen DJ Pappenheimer, vor den Augen des Publikums beim S.T.A.R. Festival nahe Stuttgart.
Ein ziemlich respektloses Verhalten unter musikalischen KollegInnen, finde ich. Vor allem in einer eingeschworenen Subkultur wie Techno, in der Werte wie Liebe, Freiheit und Respekt
genauso zum Feiern gehören wie herrlich dröhnender Bass.
In post-Corona-Zeiten, in denen Techno ein Mittel zur Selbstdarstellung auf Social Media geworden ist, scheinen diese ursprünglichen Grundsätze auszufaden wie ein 80er-Jahre-Popsong. Heißt es bald „Tiktok killed the Techno Star“?

Der Fall Stella Bossi lässt mich grübeln. Erstmal zum Hintergrund des Vorfalls: Die Berlinerin, die einen Großteil ihres Erfolgs ihrem
Auftreten auf Social Media zu verdanken hat, war spät dran.
Der vor ihr spielende Pappenheimer verlängerte sein Set, sodass kein Leerlauf zwischen den Acts entstand. Als die Zuspätkommerin
dann auf der Stage erschien, drehte ihr Manager sofort den laufenden Track ab. Der Frankfurter DJ beschwerte sich, worauf die verscheuchende Handbewegung folgte und in den Tagen darauf ein
Shitstorm von gewaltigem Ausmaß, der sogar einen eigenen #cancelstellabossi-Hashtag ausspuckte.
Heißt es bald
„Tiktok killed the Techno Star“?
Neben vielen unangebrachten Hasskommentaren, die scheinbar schon fester Bestandteil jeder Online-Community geworden sind, findet sich auch berechtigte Kritik in den Kommentarspalten: „Schade, dass sowas in der Szene passieren kann“.
Es ist natürlich ausgerechnet eine Instagrammerin, die solch einen respektlosen Umgang an die Nacht legt. Ein Umgang, der der mir bekannten Technoszene fremd ist und mich nachdenklich macht.
Hat sich Techno auf Social Media Plattformen wie Instagram und Tiktok verselbstständigt und Formen angenommen, die mit der eigentlichen Idee der Subkultur nichts mehr zu tun haben?

Die sogenannten Tiktok-Raver grinsen in die Kamera und tanzen zum
Drop, meist in fetisch-inspirierten Outfits.
Social Media malt ein verkehrtes Bild der Technokultur
Wer entsprechenden Kanälen folgt, kennt es: der Algorithmus spielt eine bestimmte Art von Techno-Videos in die Instagram-Reels. Oft wurden diese ursprünglich für Tiktok produziert, also habe ich
meine Antipathie überwunden und mich auf der Kurzvideo-Plattform durch das Hashtag „Techno“ geklickt.
Äußerlichkeiten, die wie ein billiger Abklatsch der Berliner Clubkultur wirken, werden
vereinheitlicht und untergraben ein zentrales Motto des Techno: „come as you are“.
Gefunden habe ich Unmengen an Clips, die ich ohne zu zögern mit dem Stempel „absolut cringe, brudi“ versehen würde. Die sogenannten Tiktok-Raver grinsen in die Kamera und tanzen zum
Drop, meist in fetisch-inspirierten Outfits. Dabei kommt immer derselbe auf-der-Stelle-laufen-und-Hüfte-wackeln-Move zum Einsatz – anscheinend bewegt man sich heute so zu Techno.
Ach ja, und natürlich darf eine schnelle Brille nicht fehlen. Nicht, das damit etwas nicht in Ordnung wäre.
Sonnenbrille im Club ist nicht erst seit 2012 „leider geil“.
Es sind bloß immer die gleichen Merkmale, die vermitteln sollen: „so sieht jemand aus, der Techno feiert“. Äußerlichkeiten, die wie ein billiger Abklatsch der Berliner Clubkultur wirken, werden
vereinheitlicht und untergraben ein zentrales Motto des Techno: „come as you are“.

Vor allem die freizügigen, kink-inspirierten Outfits von Modelabels wie NAKT scheinen essentiell für die Selbstdarstellung in den sozialen Medien zu sein. Dabei (Achtung: Unterstellung) weiß kein Tiktok-Raver, was dieser Kleidungsstil überhaupt mit Techno zu tun hat. Techno-Partys sind schon je her ein offener Raum für alle Menschen. Ein Raum, in dem auch von der Gesellschaft Ausgestoßene einen Platz finden. Man begegnet sich mit Respekt und Toleranz unabhängig von Herkunft, Identität, Aussehen und Kleidungsstil. Das ist auch für die queere Community zentral, die den Style maßgeblich geprägt hat und diesen in einem Safe-Space ausleben konnte.
Zynisch zusammengefasst: Modische Elemente mit einem so sensiblen Hintergrund werden Mainstream und auf Tiktok zur Selbstinszenierung missbraucht. In meinen Augen besteht da ein
massiver Mangel an Bewusstsein. Also lieber mal wieder einen Schritt in Richtung Vielfalt gehen, weg vom Billo-Berlin-Imitat, hin zum individuellen „das bin Ich“. Immerhin ist doch das Schöne an
Raves, dass es niemanden juckt, ob du in Baggy Jeans, Blumenkleid oder Jackett auf den Floor geritten kommst.

Übermittlung fehlgeschlagen
Ob ein solcher Grundsatz in inhaltslosen 10-Sekunden-Clips weitergegeben wird? I doubt it. Drehen wir die Zeit zurück bis ins Jahr 1988 (ja, das war auch lange vor meiner Zeit) als Sven Väth das
legendäre „Omen“ in Frankfurt gründet. Der „Papa des Techno“ setzte mit dem ersten elektronischen Club ein Zeichen der Rebellion in die geld-regierte Bankenstadt. Der harten Welt des Kommerzes
stehen Nächte voller Freiheit, Liebe und Lebensfreude gegenüber. Gegenseitige Achtung und ein respektvolles Miteinander tanzen seither in der ersten Reihe jedes Bunker-Raves.
Es geht ums Erlebnis, um das Genießen des Augenblicks abseits des Alltagsstresses. Das ist eine Technokultur, wie ich sie kenne und liebe. Diese Facetten können auf einem kleinen Smartphone-Bildschirm einfach nicht transportiert werden.
Stattdessen pushen InfluencerInnen einen „coolen Trend“ der Techno heißt, aber eigentlich gar kein Techno ist – oder wenn überhaupt nur einen winzigen Teil des großen Ganzen darstellt. Die
Präsentation auf Tiktok & Co verfälscht damit die Kernelemente der Szene massiv.

Rückbesinnung auf den Bass
Ich halte die sozialen Medien nicht für den Todesboten der Technokultur. Gerade für ProducerInnen und DJs ist es heutzutage ein wichtiges Marketing-Instrument, um neue Tracks zu promoten oder über Gigs zu informieren. Ob die hohe Gewichtung von Reichweite und Follower-Zahlen allerdings gerechtfertigt ist und nicht eher Schattenseiten fördert, kann man sich spätestens seit Stella Bossis Verhalten fragen.
Letztendlich finde ich es einfach nur traurig, dass der Fokus, vor allem in der jüngeren Generation, auf billiger Selbstdarstellung liegt, um sich zu profilieren und ein bisschen Fame abzugreifen. Also
lieber ein bisschen Abstand nehmen von dem realitätsfernen Einheitsbrei der Tiktok-Raver. Wie Techno wirklich ist, von der Musik bis zu den Werten und Ideen, kann man nur erleben – wenn man auf dem Dancefloor den Bass spürt, ohne ein nerviges Handy und ohne zu filmen. Oder zählt der Augenblick der Freiheit und Liebe nicht mehr als ein paar Likes auf Social Media?
Ein Kommentar von @der.lobster





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